München Anschlag: Opfer des Zufalls

Schwer bewaffnet sichern vier Polizisten den Eingang der Münchner Löwenbräustuben. Über ihren Köpfen ziert eine weiß-blaue Girlande das Logo der weltberühmten Brauerei. Es ist ein bizarres Bild: Während Urlauber und Angestellte aus den umliegenden Firmen sich ihren ofenfrischen Krustenbraten schmecken lassen, durchleiden eine Gaststube weiter dutzende Menschen die wahrscheinlich schlimmsten Minuten ihres Lebens ein zweites Mal. Die Polizei hat dort eine Zeugensammelstelle eingerichtet, der Krisendienst kümmert sich psychologisch um jene Personen, die die Amokfahrt am Donnerstagvormittag mit ansehen mussten. Drei Stunden sind vergangen, seit ein 24-jähriger Afghane in der Münchner Maxvorstadt in einen Streik von Angestellten des öffentlichen Dienstes raste.

Dennis Dogan und seine Mutter haben ihre Aussage hinter sich gebracht. Eigentlich hatten sie bei der Kundgebung der Gewerkschaft Verdi für ihre Rechte als Arbeitnehmer demonstrieren wollen. Jetzt tragen sie Bändchen am Handgelenk, die sie als Zeugen eines der schlimmsten Anschläge in München seit dem rassistischen Amoklauf am Olympia-Einkaufszentrum vor neun Jahren kennzeichnen.

### Augenzeugenbericht: Der Schrecken hautnah
Dennis Dogan ist Zeuge Nummer 173. Wenige Meter hinter ihm sei der Fahrer des weißen Mini-Coopers in die Menge gerast, sagt der junge Mann, der bei der Straßenreinigung arbeitet. „Ich habe hinter mir plötzlich einen Knall gehört. Ich drehte mich um, habe Menschen auf die Seite fliegen sehen. Manche waren unter dem Auto.“ Auch Schüsse habe er gehört. „Ich wollte nur schnell runter von der Straße, habe mich am Rand versteckt.“ Irgendwann habe sein Kreislauf versagt, erzählt der Streikteilnehmer. Was er aber „hundertprozentig sicher“ wisse: „Der Täter hat ,Allahu Akbar‘ gerufen, als er festgenommen wurde.“ Den Wahlspruch radikaler Islamisten.

Wer der Amokfahrer ist, ist schnell ermittelt: ein 24-jähriger aus Afghanistan. Schon wieder. Auf einer Pressekonferenz direkt an der Unglücksstelle gibt Bayerns Innenminister und oberster Sicherheitschef Joachim Herrmann (CSU) gegen Mittag mehr Details zu dem Mann bekannt. Er sei in der Vergangenheit schon wegen Drogendelikten und Ladendiebstählen aufgefallen. Bis zum Donnerstag sei aber „keinerlei Gewalttätigkeit erkennbar“ gewesen, ergänzt Herrmann später. Am Abend korrigiert der Minister allerdings seine Aussagen und räumt ein, dass der mutmaßliche Attentäter bislang nicht straffällig geworden sei und auch nicht ausreisepflichtig war.

Der Mann soll eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis von der Stadt München gehabt haben. Gegen ihn sei auch nicht wegen Ladendiebstahls ermittelt worden, vielmehr sei er als Ladendetektiv nur als Zeuge eines Diebstahls in Erscheinung getreten, bestätigte Herrmann. Medienberichten zufolge soll er vor dem Anschlag islamistische Beiträge im Internet geteilt haben.

### Die Folgen des Anschlags: Verletzte und Reaktionen
Mehr als eine Stunde dauert es, bis Sanitäter und Notärztinnen alle Verletzten auf Tragen in die Krankenwagen gebracht haben, die mit eingeschaltetem Blaulicht am Straßenrand warten. Manche der Opfer schauen apathisch ins Leere, anderen ist der Schock ins Gesicht geschrieben. Sie werden in sechs verschiedene Münchner Kliniken gebracht und dort versorgt. Manche sind nur leicht verletzt, andere kämpfen um ihr Leben.

Eine Augenzeugin, die hier gleich in der Nähe arbeitet, berichtet, dass der Täter sich an der Polizei „vorbeigeschlängelt“ habe. Auch sie hat wie Straßenreiniger Dennis Dogan mindestens einen Schuss gehört. Viel mehr kann sie nicht sagen. „Vielleicht in ein bis zwei Tagen, wenn der große Schock vorbei ist.“

Münchens Polizei-Vizepräsident Christian Huber erklärt den Ablauf genauer: Der Mini-Fahrer habe von hinten auf ein Polizeifahrzeug, das den Demozug begleitete, aufgeschlossen, um dann plötzlich stark zu beschleunigen. Er fuhr demnach an der Polizei vorbei und steuerte das Auto mit hoher Geschwindigkeit in die Demonstranten. Die Polizisten gaben daraufhin einen Schuss ab, offenbar um den Wagen zu stoppen. Ersten Erkenntnissen der Behörden zufolge hat der 24-Jährige sich wohl nicht gezielt die Verdi-Demo ausgesucht. Seine Wahl fiel nach aktuellem Stand wohl eher zufällig auf diese Menschenmenge.

Wieder ein furchtbarer Anschlag also, wieder ein Asylbewerber, und wieder in Bayern. Die Amokfahrt von München knallt in die ohnehin aufgeheizte Atmosphäre dieses Winterwahlkampfs. Und auch, wenn die erste Sorge bei den Opfern ist, bei dem offenbar schwerverletztem Kind, das vor Ort wiederbelebt wurde, dreht sich der zweite Gedanke natürlich auch um die Politik, den Wahlkampf, die Frage, was der neue Anschlag bewirkt.

Die Politik reagiert, mit Worten. Ministerpräsident Markus Söder (CSU) kommt an den Ort des Anschlags, gibt zu erkennen, dass das nicht mehr reicht. Nicht nach Magdeburg und Aschaffenburg, nicht nach München jetzt. „Wir können nicht von Anschlag zu Anschlag gehen und Betroffenheit zeigen (…), sondern müssen auch tatsächlich etwas ändern“, sagt er. Ähnlich formuliert es Kanzlerkandidat Friedrich Merz auf der Plattform X.

Nach Anschlag in München: Rasche Verschärfung der Asylgesetze unwahrscheinlich
Nur was, was soll sich ändern? Der Versuch des Unions-Kanzlerkandidaten, das sogenannte Zustrombegrenzungsgesetz durch den Bundestag zu bekommen, scheiterte zuletzt, obwohl die Union dafür sogar in Kauf nahm, mit der AfD gemeinsam abzustimmen. Dass es nach der Wahl zu einer raschen Verschärfung der Asyl- und Migrationsgesetze kommt und zu der von Merz versprochenen Zurückweisung an den Grenzen, ist ebenfalls unwahrscheinlich.

Immerhin wird die Union aller Wahrscheinlichkeit nach mit SPD oder Grünen regieren, die diesen Kurs nicht mittragen. Grünen-Spitzenkandidat Robert Habeck ordnet die Bluttat von München daher auch zurückhaltender ein als Söder, erstmal ohne Verweis auf politische Konsequenzen: „Ich bin entsetzt angesichts dieser sinnlosen Tat.“ Wichtig sei, dass die Hintergründe jetzt schnell aufgeklärt werden. Profitieren könnte von dieser Uneinigkeit wie so oft die AfD.

Während in ganz Deutschland Politikerinnen und Politiker auf die Tat reagieren, während an der Katastrophenkreuzung am Donnerstagnachmittag weiterhin die Polizei ihrer Arbeit nachgeht, kann Claudia Weber nur noch bedauern. Sie ist Geschäftsführerin bei Verdi München und hat die Demonstration organisiert. Es sollte ein Tag der Wertschätzung werden für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Öffentlichen Dienstes, für städtische Kita-Kräfte, Bademeister, Menschen, die dafür sorgen, dass täglich Strom und Trinkwasser fließen. Verdi-Planerin Weber bereitete auf dem mondänen Münchner Königsplatz gerade alles für die zentrale Kundgebung vor, als sie die Nachricht von der Amokfahrt erreichte. Jetzt steht sie vor dem Löwenbräukeller, trotz ihrer Sorge um mehrere Kolleginnen und Kollegen kommen die Worte, die sie sagen möchte, schnell und entschlossen über ihre Lippen. „Hier haben Menschen für ihre Rechte demonstriert. Menschen, die das Land am Laufen halten. Und dann fährt hier ein Irrer rein. Wir sind alle geschockt.“

Auch bei Dennis Dogan von der Straßenreinigung wird der Schock noch anhalten. Er sei mit mehreren Kollegen bei der Demo gewesen, erzählt er, sichtlich erschöpft von seiner Zeugenaussage. „Einer von ihnen ist schwer verletzt.“ Dogan selbst trägt noch die Weste von der Demo, sie leuchtet neongelb wie neu. Doch er kann sich nicht darüber freuen, dass er unversehrt geblieben ist. „Ich sehe immer wieder diese Autoscheibe vor mir, das ganze Blut. Die Experten vom Krisendienst haben zwar gesagt, dass ich versuchen soll, positiv zu denken“, sagt er. „Aber das geht gerade einfach nicht.“