Kanzlerkandidat Friedrich Merz hat im Bundestag die Unionsfraktion gemeinsam mit der AfD abstimmen lassen. Mitten im Wahlkampf setzt er alles aufs Spiel. Warum?

Berlin taz | Als Friedrich Merz am vergangenen Mittwoch ans Redepult im Bundestag trat, war vieles anders als sonst. In der letzten Sitzungswoche vor der Bundestagswahl wollte Kanzler Olaf Scholz nach dem tödlichen Angriff in Aschaffenburg eine Regierungserklärung abgeben. Gewöhnlich erklärt und verteidigt dabei zuerst der Kanzler seine Politik, dann erwidert der Oppositionsführer, oft mit scharfer Kritik. Merz, Vorsitzender der CDU/CSU-Bundesfraktion und Kanzlerkandidat der Union, kann das gut.
Doch diesmal griff Scholz an, und Merz musste sich verteidigen. Weniger für seinen Fünfpunkteplan für ein „faktisches Einreiseverbot“ – obwohl dieser nach Ansicht von SPD, Grünen und Linken gegen Europarecht und das Grundgesetz verstößt. Sondern vor allem dafür, dass der CDU-Chef bereit war, den Antrag dazu mit den Stimmen der AfD zu verabschieden. Und das, obwohl er genau dies vor zwei Monaten im Bundestag noch dezidiert ausgeschlossen hatte. Eine Mehrheit abhängig von den Stimmen einer extrem rechten Partei, das wäre eine Abkehr von den Tradi­tionen des Bundestags. Und ein historischer Tabubruch.
Als es genau so kam und das Ergebnis der Abstimmung verkündet wurde, saß die Unionsfraktion konsterniert da. Die AfD jubelte.
Erst eine knappe Woche zuvor hatte Merz in einer kurzfristig einberufenen Pressekonferenz seinen Fünfpunkteplan präsentiert. Im Fall seiner Wahl zum Kanzler werde er „an Tag eins“ das Bundesinnenministerium anweisen, die deutschen Staatsgrenzen vollständig und dauerhaft zu kontrollieren. Alle, die keine gültigen Einreisedokumente haben, sollen zurückgewiesen werden. Das gelte „ausdrücklich auch für Personen mit Schutzanspruch“. Dies und die anderen vier Punkte seines Papiers machte er zur Bedingung für Koalitionsgespräche. „Kompromisse sind bei diesen Themen nicht möglich.“ Der Auftritt verströmte einen Hauch von Trump, wohl absichtlich. Merz wirkte entschlossen und tatkräftig, eine Haltung, die sich ein Teil der Bevölkerung im Umgang mit Geflüchteten offenbar wünscht. Das Momentum, so schien es, lag bei ihm.

Nach der Abstimmung im Bundestag sieht das nun anders aus. Merz beteuert, dass er keine Mehrheiten jenseits des demokratischen Spektrums wolle. „Falls es eine solche Mehrheit gegeben hat, dann bedauere ich das.“ Dann tritt Bernd Baumann von der AfD ans Redepult und kann seine Euphorie kaum zügeln: „Jetzt und hier beginnt eine neue Epoche, und die führen wir an. Sie können folgen, Herr Merz. Wenn Sie die Kraft dazu haben.“
Nach nicht einmal einer Woche hat sich ein kraftvoller Auftritt in ein Debakel verwandelt. Was hat Merz da getan? Und warum?

Eigentlich lief es nicht schlecht für ihn. Die Union liegt in den Umfragen seit Monaten stabil vorn, der Einzug ins Kanzleramt schien ihm kaum mehr zu nehmen zu sein. Doch die Union stand, trotz des Ampel-Chaos, wie festgenagelt bei um die 30 Prozent. Der Wirtschaftswahlkampf, den Merz der Partei verordnet hatte, zündete nicht. Und ständig stichelte die CSU.

Thomas Biebricher, Politikwissenschaftler, kommentiert: „Das alles hat in einer so brisanten Lage nicht das Niveau eines Kanzler­kandidaten.“

Donald Trump im Amt eingeführt. Wie dieser mit dickem Stift Dekrete unterzeichnete und Handlungsfähigkeit ausstrahlte, imponierte manchen in der Union. Entscheidend aber war der tödliche Angriff in Aschaffenburg, bei dem mutmaßlich ein psychisch kranker Geflüchteter aus Afghanistan, der Deutschland längst hätte verlassen müssen, eine Kindergruppe angriff und zwei Menschen tötete, darunter einen zweijährigen Jungen.

Die Amokfahrt auf dem Weihnachtsmarkt in Magdeburg mit sechs Toten war da noch nicht lange her. Merz sei wirklich erschüttert gewesen, hört man aus der CDU. Er weiß, dass viele Menschen eine klare Reaktion sehen wollen, und sieht die Gefahr, dass diese sich der AfD zuwenden. Die Angst davor, dass die extrem Rechten bis zur Bundestagswahl 2029 noch weiter zulegen könnten, ist groß bei der Union.

Womöglich sahen Merz und die anderen Beteiligten der Unionsspitze hier eine Gelegenheit. Merz könnte stärker in die Offensive kommen, der Wahlkampf Fahrt aufnehmen. So entsteht aus bereits bekannten Forderungen der Fünfpunkteplan für den „Tag eins“ von Merz’ Amtszeit. Der räumt in seiner Kompromisslosigkeit scheinbar unausgesprochen auch noch Schwarz-Grün als Option ab.

Merz steckt nun in einem Migrationswahlkampf, den er eigentlich nicht wollte. Denn die Union weiß, dass dieser auch bei der AfD einzahlen kann. Dann kündigt Merz auch noch zwei Anträge an, die die Union in der letzten Sitzungswoche in den Bundestag einbringen wird. Am Rande eines Pressestatements sagt er: „Wir werden sie einbringen, unabhängig davon, wer ihnen zustimmt.“ Was heißt: Merz nimmt in Kauf, eine Mehrheit mit der AfD zu erreichen.

Seitdem ist die Empörung groß. Statt um Merz’ restriktive Migrationspolitik, die sich immer weiter nach rechts verschiebt, beginnt der Mann nun auch noch die Brandmauer zur AfD einzureißen? Hat er wirklich einen Plan? Oder geschieht hier etwas, was niemand zu Ende gedacht hat?

In seiner Regierungserklärung unterstellt der Kanzler Letzteres. Merz habe „im Affekt“ den Konsens aller De­mo­kra­t*in­nen im Parlament aufgekündigt, das sei „ein unverzeihlicher Fehler“. Scholz’ Formulierung vom Handeln im Affekt verfängt nicht nur, weil sich die Union darüber ausschweigt, wie die Idee mit den beiden Anträgen entstanden ist, zu denen später auch noch ein Gesetzentwurf hinzukommt.

Die CDU könnte langfristig beschädigt sein. Thomas Biebricher, Politikprofessor, kommentiert: „Jetzt kann doch niemand mehr verlässlich sagen, was für eine Politik man mit ihm bekommt. Das alles hat in einer so brisanten Lage nicht das Niveau eines Kanzlerkandidaten.“

Öffentlicher Widerspruch des liberalen Flügels hält sich bislang in Grenzen. Als einzige Christdemokratin stimmte Antje Tillmann gegen den Antrag mit Merz’ Fünfpunkteplan, acht weitere CDUler blieben der Abstimmung fern. Merz hat Partei und Fraktion hinter sich eingeschworen, interne Bedenken, unter anderem aus Reihen der Ministerpräsidenten, soll er abgebügelt haben. Er will den Kurs jetzt durchsetzen. Gestützt, oder eher getrieben, von Alexander Dobrindt von der CSU.

Die ehemalige Kanzlerin Angela Merkel hat sich inzwischen offen gegen Merz gestellt, der Publizist Michel Friedman ist aus der Partei ausgetreten, der Holocaust-Überlebende Albrecht Weinberg gab sein Bundesverdienstkreuz zurück. Zehntausende gingen gegen die Union auf die Straße.

Friedrich Merz setzt viel aufs Spiel. Auch seinen eigenen Erfolg. Er verstärkt den Verdacht, dass er, der ohnehin keine Regierungserfahrung hat, zum Kanzler nicht taugt – weil er unzuverlässig und impulsgetrieben ist. Weil er einreißt, was er aufgebaut hat, wie ein Kind. Nur, dass es hier nicht um Bauklötze geht, sondern um die demokratische Verfasstheit eines Landes.