Manches Bild wird sich im Kopf festsetzen: Erika Vikman und ihr wirklich großes Mikrofon. Oder der halb nackte Armenier („Schmutzig! Da blüht die Fantasie“ – bild.de). Aber so ist das mit dem Eurovision Song Contest: Man muss hart im Nehmen sein bei diesem Wahnsinn aus Powerballadenethnogagapop und Karneval. Am Ende, nach vier Stunden, stand dann in der Nacht auf Sonntag fest: Den ESC 2025 hat der falsche Wiener gewonnen, zumindest aus deutscher Sicht.

„JJ, jetzt g’winn uns den Schaß!“, hatte der Radiosender FM4 noch getitelt. Und tatsächlich, der sympathische Vorjahressieger-Nemo-Epigone überzeugte Jurys wie Publikum am Ende mit einem Song, „Wasted Love“, der (Conchita) Wurst-Vibes mit Techno-Geballer verband.

Deutsche ESC-Performance: Tynnas Stimme wackelig, Abors Cello LED-beleuchtet

Vom Ende her dachte bekanntlich Angela Merkel. Stefan Raab als Merkel des Eurovision Song Contest tat das auch: Für ihn zählte nur der Sieg. Sagte er bei jeder Gelegenheit in der für ihn typischen Mischung aus Selbstbewusstsein, Großkotzigkeit und Verbissenheit. In der ARD, die mit dem nach fast einem Jahrzehnt auf die Showbühne zurückgekehrten Privatsender-Star kooperierte, plapperte man das nach. Man dachte wohl: Soll Raab mal einen ESC-Teilnehmer finden, der nicht Letzter wird! Kann ja bloß besser werden!

Wurde es nicht wesentlich: Platz 15 für die Wiener Geschwister Abor & Tynna in Basel – nach dem zwölften Platz vom aufrichtig bemühten und bereits vergessenen Isaak beim ESC 2024 in Malmö. Ihr Song „Baller“, den Vorentscheid-Jury-Präsident Raab mit ausgeguckt hatte, ballerte ein bisschen. War aber kein Kracher, nicht in Deutschland, nicht europaweit. Tynnas Stimme wackelig, Abors Cello LED-beleuchtet, der Auftritt eher statisch. Tja nun.

Der Schmerzensmann am Schiffsmast: Countertenor JJ aus Österreich.
Foto: Jens Büttner, dpa

Tja nun – schade. Denn dem ESC-Tausendsassa Raab, der als Entdecker/Komponist/Songautor/Produzent/Sänger zuverlässig Top-Ten-Plätze in dem Wettbewerb erreichte, muss man immerhin hoch anrechnen, dass „Baller“ der modernste und unpeinlichste deutsche ESC-Song seit Langem war. Musikalisch durchaus auf der Höhe der Zeit, nicht irgendwelchen ESC-Vorjahressiegern und vermeintlichen ESC-Trends hinterherhechelnd. ABER: Vergessen wurde offensichtlich, dass der Eurovision Song Contest in erster Linie eine TV-Show ist, in der es auf den (Überraschungs-)Effekt ankommt. Und im Vorfeld auf den, wie man das neuerdings sagt, Buzz. Heißt: auf das Getöse in Social Media, Drumherum und Drüberhinaus. „Baller“ löste wenig aus, da war selbst Raab machtlos.

Jener Raab, das nebenbei, der in eigener Sache auch nicht mehr viel auslöst: Kurz vor dem ESC-Finale wurde öffentlich, dass seine RTL-Show „Du gewinnst hier nicht die Million“ abgesetzt wird. Medien-Interessierte erinnern sich an dieser Stelle daran, wie Inga Leschek, Chief Content Officer bei RTL Deutschland, im vergangenen September jubilierte, der Millionen-schwere Raab-Comeback-Deal sei „das Smarteste, was ich in meinem Leben gemacht habe“. Tja nun.

Lalalala machen beim ESC-Finale halt auch andere

Raab jedenfalls hatte zwar im deutschen Vorentscheid-Halbfinale richtig erkannt, dass beim ESC „irgendein Wiedererkennungseffekt“ geschaffen werden müsse. Die Leute müssten sagen: „Das war doch der mit dem Cello oder der mit diesem „Lalalala“.“ Aber Lalalala machen halt auch andere – und das viel mehr, stärker und mutiger.

Spanien schickte ein in einen knappen Glitzerfummel gepresstes Shakira-Double (ähnlich wie Malta und Dänemark), Estland einen oberlippenbärtigen Espresso-Troubadour, der einen Einwegbecher anschmachtete und tanzte wie eine Qualle, Schweden drei zugegebenermaßen grandiose Sauna-Sonderlinge, für Italien kamen Friseur-Modells, für Finnland kam eine wilde Latex-Erika.

Die wilde Erika: Die frivole Finnin Erika Vikman hatte ein wirklich großes Mikrofon und sang orgiastisch auf Deutsch: „Ich komme.“
Foto: Martin Meissner, AP/dpa

Die ist eine extra Erwähnung wert, steht sie für die Ver-Sex-ung des diesjährigen ESC. Wobei alte Weisheit: Das Auge isst mit. Warum JJ – der 24-jährige Countertenor aus Österreich, der jünger aussieht, als er ist – bei den Jurys derart gut ankam? Weil bei ihm die Windmaschine herrlich blies und er sich, ganz in Schwarz-Weiß, putzig an einen Schiffsmast klammerte? Wer weiß das schon? Wer weiß schon, was Polen mit Drachen zu schaffen hat und warum bei San Marino eine Statue Kaugummi kaute? Egal, ESC. Am Ende gab ohnehin das europäische Publikum den Ausschlag. Dem ist der Sinn aktuell offenkundig nach großer Oper.

Und so war auch dieser ESC ein wahres Fest der Freude – ja ja, und der Musik. Aber nicht für Deutschland, wo er von Jahr zu Jahr zu Fremdscham und Frust statt Frohlocken führt. Und wieder rührt er an ein nationales Trauma. Deutschland, der kranke Mann Europas, ESC-Mittelmaß, keiner liebt uns! Die Zeiten sind schwierig, der ESC reitet uns tiefer in die Krise. Na vielen Dank auch…

Die Sauna-Sonderlinge: Schweden geht einfach in die Sauna, um Dampf abzulassen. „Bara bada bastu“ eben.
Foto: Jens Büttner, dpa

Andere haben‘s und sind wahrlich besser. Mit ihren modernen Balladen-Variationen oder klamaukiger Selbstironie. Wie die Schweden, die einfach in die Sauna gehen, um Dampf abzulassen. „Bara bada bastu“ eben. Und in Deutschland? Wie Merkels Zeiten sind auch die von Raab endgültig vorbei. Das müsste jetzt nur noch jemand in der ARD kapieren, in der man sich in Sachen ESC-Vorentscheid nichts traut und entweder an Erfolgsrezepte von einst, siehe: Raab, klammert oder immer verzweifelter und wurstiger wird. Leider nicht Conchita-Wurst-ig.