Das Dilemma der Grünen: Klimaschutz und Roberts Herausforderung
Im Norden der Lübecker Altstadt steht seit hunderten Jahren das Gebäude der Schiffergesellschaft. Früher war es das Zunfthaus der Kapitäne, heute befindet sich darin ein Restaurant, und damals wie heute ist auf den beiden Stelen vor dem Eingang ein Spruch zu lesen. „Allen zu gefallen“, steht dort, „ist unmöglich.“
Grüner Wahlkampfauftakt in Lübeck
Einen guten Kilometer entfernt, am anderen Ufer der Trave, stauen sich am späten Montagnachmittag die Menschen vor der Lübecker Kongresshalle. Der Veranstaltungsort, den die Grünen für ihren Wahlkampfauftakt in der Geburtsstadt ihres Kanzlerkandidaten Robert Habeck gebucht haben, ist zu klein. Geschickt falsch geplant: Am nächsten Tag schreiben die Zeitungen von einem Riesenandrang auf den überfüllten Saal. Ein gelungener Start in den zweiten Anlauf, die Schiffergesellschaft zu widerlegen.
Sorge vor der Überforderung
Nüchtern betrachtet ist die grüne Bilanz zwar in Ordnung. Erst in dieser Woche hat die Denkfabrik Agora Energiewende der Partei einen Erfolg bescheinigt. Die Treibhausgasemissionen sind im letzten Jahr erneut gesunken. Die eigenen Zielvorgaben hat die Bundesregierung 2024 erfüllt, und das vor allem, weil sie den Ausbau der erneuerbaren Energien angezogen hat. Ein Verdienst von Klimaminister Habeck.
Wie führt man einen Klimawahlkampf, der beiden Seiten gerecht wird?
Zunächst einmal damit, nicht zu penetrant übers Klima reden. Diesen Eindruck vermitteln die Grünen zumindest in den ersten Tagen der heißen Wahlkampfphase. 2021 versprachen sie in ihrem Wahlprogramm noch, das Klima „in den Mittelpunkt“ ihres Regierungshandelns zu stellen und „das Handeln aller Ministerien“ danach auszurichten. Das Klima zu schützen hatte einen Wert an sich, und das war der Kern ihrer Kampagne.
In der Parteizentrale bestreitet man, das Klima zur Nebensache zu machen. Und natürlich: Unter den Plakaten, die Parteimitglieder in diesen Tagen deutschlandweit aufhängen, ist auch eines zu „Natur und Klima“. Das „Klima“ ist darauf aber kleingedruckt. Und als Robert Habeck zum Wahlkampfauftakt in Lübeck redet, streut er den Klimaschutz fein dosiert zwischen andere Themen wie den Rechtsruck, die russischen Aggressionen, die Wirtschaftskrise und vor allem die soziale Lage.
Nicht mehr als Zweck für sich, sondern als Mittel zum Zweck: Erneuerbare Energien, so Habeck, seien ohnehin günstig. Die Abgaben auf Strompreise wolle man auch noch senken und damit die Nachfrage nach Elektroautos und Wärmepumpen steigern. „Wir entlasten die Haushalte, schützen das Klima und erneuern unsere Wirtschaft durch diese Vorschläge. Darum geht es in diesem Wahlkampf.“
Zentrale Klimabotschaften der Grünen sind mit Vergünstigungen verbunden, hinterlegt mit einem vagen Finanzierungskonzept aus Krediten und höheren Steuern für Superreiche. Neben billigem Strom geht es zum Beispiel darum, den Preis des Deutschlandtickets wieder auf 49 Euro zu drücken. Geld sparen und gleichzeitig den CO2-Ausstoß verringern – quasi Win-win-Maßnahmen, die tatsächlich fast allen gefallen sollten. Als Lehre aus dem Gegenwind der Regierungsjahre und dem Vorwurf an die Grünen, sozial blind zu handeln, ist der Ansatz schlüssig.
Zwischen Kulturkampf und Kosten
Aber reicht das auch, um die Erderwärmung ausreichend zu verlangsamen? An der Parteibasis kommt das Konzept im Prinzip gut an, in Teilen wurde es sogar von dort eingefordert. Unter den Mitgliedern sieht man aber auch noch Leerstellen. Am Entwurf für das Wahlprogramm, das ein Parteitag Ende Januar beschließen soll, gibt es mehr als 1.800 Änderungsanträge. In vielen davon geht es um ambitionierteren Klimaschutz.
Es wird zum Beispiel gefordert, Subventionen für Dienstwagen, Diesel und Kerosin abzuschaffen. Das würde weitere Emissionen einsparen, viele Menschen aber doch wieder Geld kosten. Es wird gefordert, Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit in Ortschaften einzuführen. Das kostet nichts, könnte aber den nächsten Kulturkampf auslösen. Und es wird gefordert, die Reform des Klimaschutzgesetzes zurückzudrehen, somit den einzelnen Ministerien wieder verbindliche Ziele vorzugeben und sie im Endeffekt also doch wieder zu mehr Zumutungen zu zwingen.
Effektiven Klimaschutz, der gar niemandem etwas abverlangt, könne es gar nicht geben: Das ist auch die Ansicht der Aktivist*innen von Fridays for Future. Die Bewegung setzt zwar ebenfalls auf sozialen Klimaschutz und hat im Prinzip sogar vorgemacht, was die Grünen jetzt im Wahlkampf versuchen. Auf der Suche nach Antworten auf ihre eigene Krise haben die Fridays schon vor über einem Jahr ein Bündnis mit der Gewerkschaft Verdi geschlossen. Gemeinsam mit Busfahrer*innen haben sie für mehr Klimaschutz und höhere Löhne demonstriert.
FFF-Sprecherin Carla Reemtsma geht es trotzdem zu weit, wie die Grünen jetzt probieren, Konfliktzonen im Wahlkampf auszusparen. „Sie versuchen, den Eindruck zu erwecken, dass Wohlfühlklimaschutz und ein ökologisches ‚Weiter so‘ ohne substanzielle Veränderungen ausreichen würden“, sagt Reemtsma. Robert Habeck nimmt sie übel, dass er im Dezember sogar den Kohleausstieg 2030 in Frage gestellt hat.
Es kommt auf die Wechselwähler*innen an
Aber müssen die Grünen deswegen um die Stimmen der Fridays, der anderen Klimabewegten und der Stammklientel bangen? Viel Konkurrenz gibt es um sie nicht. Die Kleinpartei Volt hatte den Grünen bei der Europawahl Stimmen abgenommen und versucht das jetzt wieder. Die Partei wirbt mit Klimaneutralität schon 2040, nicht erst 2045. Die Erfahrung zeigt aber: Bei Bundestagswahlen neigen die Wähler*innen stärker zu den Etablierten. Auf dem Papier ist auch die Klimapolitik der Linkspartei ambitionierter als die der Grünen. Aber deren schlechte Umfragewerte von 3 bis 4 Prozent könnte ebenfalls Wähler*innen abschrecken.
Dagegen sind nach dem Bruch der Ampelkoalition die Umfragewerte der Grünen leicht gestiegen – ein Indiz dafür, dass ihnen die Kernwählerschaft im Moment nicht wegläuft. Im neuen Politbarometer des ZDF liegen die Grünen sogar zum ersten Mal seit einem Jahr wieder einen Prozentpunkt vor der SPD. Wollen die Grünen diesen Trend verstetigen, kommt es wirklich auf die Wechselwähler*innen an.
Möglich, dass die Grünen dort noch Wahlkampfhilfe bekommen. Donald Trump will nach seinem Amtsantritt die Transformation in den USA rückgängig machen. In Deutschland droht in dieser Frage die Union mit krassen Rückschritten. Übertreibt sie es mit solchen Ankündigungen, erinnern sich Wähler*innen vielleicht über die klassische Grünenklientel hinaus daran, wie wichtig sie den Klimaschutz vor ein paar Jahren einmal fanden.
In der SPD hat man schon erkannt, dass das Klimathema auch in der Mitte wieder Mobilisierungspotenzial bieten könnte. In einer schwarz-roten Koalition würde seine Partei den Klimaschutz nicht opfern, versicherte SPD-Generalsekretär Matthias Miersch unlängst. Seine Partei achte in dieser Frage aber auch auf den sozialen Zusammenhalt und die Wirtschaft. Das sei der Unterschied zu den Grünen.
Die offenen Flanken für solche Angriffe schließen: Das ergibt für die Grünen wahltaktisch Sinn. Umso schwieriger wird es aber, falls das Kalkül aufgeht. Falls die Grünen bis zur Wahl noch ein paar Prozentpunkte zulegen, CSU-Chef Markus Söder seine Fatwa gegen sie aufgibt und ihr Win-win-Programm in der nächsten Regierungsbeteiligung in den Realitätscheck gerät. Und das alles unter den Augen einer Öffentlichkeit, der schon länger niemand gesagt hat, dass echter Klimaschutz nicht immer schmerzfrei für alle ist.