Flucht aus Beit Lahia: Unsere Autorin berichtet vom Verlust des Vaters, endlosen Bombennächten – und der Suche nach einem letzten Rest Sicherheit.

Beit Lahia, 13. Mai: Da war diese riesige Explosion, die den Boden erzittern ließ wie ein Erdbeben. Wir wachten panisch auf und schauten uns um – gab es Verletzte? Alles war dunkel, Schreie und weinende Kinder um uns herum. Ein Haus in der Nähe wurde getroffen. Die Nachricht verbreitete sich schnell – es gab Tote und Verletzte. Viele eilten hin, um zu helfen. Wir dachten, es sei vorbei und legten uns wieder schlafen. Doch es war erst der Anfang.

Die Bombardierungen hielten in den nächsten Tagen unerbittlich an, Tag und Nacht, mit dem Summen von Drohnen, Schüssen und Artilleriefeuer. Dann kam die Nacht vom 16. Mai, die letzte, die ich in meiner Heimatstadt Beit Lahia verbrachte. Die Intensität und Nähe der Angriffe ließen uns nicht schlafen. Granatsplitter fielen um uns herab, in unseren Zelten waren wir schutzlos. Alle beteten nur, dass der Morgen käme, bevor der Tod sie erreichte. Der Morgen kam, aber die Katastrophe blieb. Die Menschen wussten nicht, wohin.

Chaos herrschte, die Straßen waren voller Vertriebener. Mein Onkel und meine Freunde drängten uns, sofort in den Westen von Gaza-Stadt zu fahren, wo es angeblich sicherer war. Doch für unser Gebiet gab es keine Evakuierungsbefehle, und wir befanden uns in einem bekannten Flüchtlingslager. Die israelische Armee war noch kilometerweit entfernt. Nur 15 Minuten nach dem ersten Angriff schlugen etwa sechs Granaten nahe unseres Flüchtlingslagers ein, in einem belebten und dicht besiedelten Gebiet an der Hauptverkehrsstraße von Beit Lahia nach West-Gaza. Die Nachricht verbreitete sich schnell – viele Tote und Verletzte. Die Geschwister meiner Mutter und ihre Kinder lebten in dieser Gegend. Vorher hatten sie uns gesagt, dass sie sich auf die Evakuierung vorbereiteten.

Es wird Tag und Nacht bombardiert, und nach einem Angriff versuchten wir, sie zu erreichen – und hörten nur Schreie: Sie waren getroffen worden. Die Panik wuchs. Wir wussten nicht, was mit ihnen geschehen war. Junge Männer eilten herbei, um den Verletzten zu helfen. Darunter war auch mein Cousin. Er war tot. In diesem Moment dachte ich an den Tod meines Vaters. Meine Angst wuchs, als die Nachrichtensender die ersten Videos zeigten. Ich erkannte meinen Vater an seiner Kleidung, sein Gesicht war nicht zu sehen. Alle sagten, er sei nur verletzt. Doch mein Herz kannte bereits die Wahrheit – ich wusste, dass ich ihn nie wiedersehen würde. Meine Mutter fuhr ins Krankenhaus.

Dann kam die Bestätigung – er war getötet worden. Ich rannte zum Friedhof, ohne den Boden unter meinen Füßen zu spüren. Ich schrie und weinte und flehte meine Mutter an, mich ihn noch ein letztes Mal küssen zu lassen. Ich saß neben ihm in seinem Grab, küsste seine Hand immer wieder und prägte mir noch einmal sein Gesicht ein. Für immer wird mich dieser Moment begleiten. Für meinen Cousin hielten wir eine kurze Trauerfeier ab, denn die Situation ließ nichts anderes zu. Wir packten schnell das Nötigste zusammen – Nahrung, Kleidung, Decken. Wir bauten die Zelte ab, luden sie ins Auto. Es passte nicht alles hinein, vieles musste zurückbleiben. Dann verließen wir Beit Lahia. Es war das erste Mal, dass wir ohne meinen Vater evakuieren mussten. Mein Onkel fuhr sein Auto. Der Verkehr war dicht, die Straße holprig, auf beiden Seiten lagen Trümmerhaufen.

Die Fahrt war lang und anstrengend. Die Nacht brach herein, und die Bombenangriffe setzten wieder ein. Schließlich kamen wir im Westen Gazas an, in einer Wohnung, in der die Familie meines Onkels bereits wartete. Wir trugen unsere Habseligkeiten hoch in den sechsten Stock, ohne Aufzug, ohne Strom. Mich überwältigten die Gefühle: Erleichterung, dass ich es mit meiner Familie aus Beit Lahia herausgeschafft hatte. Stolz, dass wir unsere erste Prüfung ohne meinen Vater gemeistert hatten. Trauer, unsere Heimatstadt verlassen zu haben. Und um meinen Vater – und das Gefühl der Sicherheit, welches ich immer an seiner Seite empfunden hatte.

Seham Tantesh, 23, aus Beit Lahia. Sie ist die Cousine unserer Reporterin Malak Tantesh und wurde insgesamt acht Mal vertrieben.

Internationale Journalist*innen können seit Beginn des Kriegs nicht in den Gazastreifen reisen und von dort berichten. Im „Gaza-Tagebuch“ holen wir Stimmen von vor Ort ein. Es erscheint meist auf den Auslandsseiten der taz.

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